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von Ida Labudovic
1935 in Belgrad. Ein vierzehnjähriger Bub namens Tuvi hielt seine jüngere Schwester Simha an der Hand, während beide nach dem Schabbatgottesdienst durch eine abschüssige Strasse von der Synagoge Bet Israel zur Jalija gingen. Sie bewunderte ihren großen Bruder und sie spielten jeden Schabbat das gleiche Spiel: Während die Älteren einander zum Schabbat grüßten, hat sie sich bei der Eingangsstiege hinter einem Pfeiler versteckt und wartete, dass Tuvi sie fand. Sie war das glücklichste Mädchen auf der ganzen Welt, mit Locken, die immer über ihre braunen Augen fielen. Doch dann wurde ihr Bruder getötet, die Synagoge niedergerissen und sie wusste, dass diese Jahre des Glücks nie mehr existieren würden. Überall in den Städten im Süden und im Norden, dort wo Jiddisch gesprochen wurde, und dort, wo die Menschen sich auf Ladino begrüßt haben, lag der Schrecken des Kriegs und der Zerstörung mit tausenden Toten und nur ein Schweigen blieb zurück. Wird jemals bekannt werden, dass Tuvi, Simha, Jakov, Samuilo, Rifka, Aron, Rebeka... einmal gelebt haben?
Jüdisches Viertel
Juden leben seit dem 10. Jahrhundert in Serbien (hauptsächlich in Belgrad) und archäologische Beweise zeugen von der Existenz orientalischer Juden (Romaniot) im ersten Jahrhundert. Zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert war Belgrad nach Thessaloniki eines der bedeutendsten geistigen und wirtschaftlichen Zentren des jüdischen Balkan. Ein großer Teil des damaligen Belgrader Bürgertums waren Juden mit ihren eigenen Bräuchen in den Tempeln und in der Gemeinde, ihren familiären Beziehungen, ihrer Kleidung und Sprache, sowie ihren berühmten Geschäften. Die sefardischen Lieder, die des Abends in der Jalija zu hören waren, gaben jenem Stadtviertel, in dem die Juden gelebt haben, ein ganz besonderes Flair. Charakteristisch für diese Gegend waren schmale Strassen, niedrige Häuser und Gärten mit vielen Blumen. Während der Feiertage und besonders zu Purim, waren jüdische Häuser für alle Belgrader Mitbürger offen. Man konnte überall Musik auf Ladino hören, die Menschen tanzten auf der Strasse, zuhause sowie im Garten und in den Nächten traf man Menschen voller Lebensfreude. Juden waren hauptsächlich im Handel und Handwerk tätig, aber auch in Geld- und Bankgeschäften. Sie haben das urbane Leben und die Atmosphäre der Stadt beeinflusst, sind Teil des serbischen Umfelds gewesen und haben bedeutende Spuren in Belgrad hinterlassen, die man heutzutage in der Architektur, den Häusern mit ihren Symbolen, Ornamenten und Strassen des „Jüdischen Dorćol“ (Teil der Altstadt) erkennen kann. Die
erste jüdische Gemeinde wurde 1866 gegründet, ihr Präsident war Jahiel Ruso. Das
neue Haus der jüdischen sefardischen Gemeinde wurde 1928 gebaut und bis jetzt
befindet sich die „Jüdische Gemeinde Belgrad“, der Verband „Jüdische Gemeinde
Serbiens“, und sogar das „Jüdische Historische Museum“ in diesem Haus. Die
einzige verbliebene Synagoge in Belgrad (Sukat Šalom)
hat 2006 ihren 80. Geburtstag gefeiert. Oberrabbiner Isak Asiel, Nachfolger des
unvergesslichen Oberrabbiner Cadik Danon, hat viel zur Revitalisierung der
Synagoge und des religiösen Lebens beigetragen. Die alte Synagoge „Kal Viezu“
wurde nach dem 2. Weltkrieg abgerissen, weil sie sehr baufällig war und das
Stadtviertel umgebaut wurde, aber der Grundstein steht bis heute unter
Denkmalschutz.
Es gibt zwei jüdische Friedhofe in Belgrad: der alte aschkenasische, der nun Teil des Belgrader sogenannten „Neu-Friedhofs“ ist, und der jüdische Friedhof (seit 1888, damaliger sefardischer Friedhof), der heute noch in Verwendung ist. Ein Aberglaube ist mit dem aschkenasischen Friedhof verbunden: Wenn jemand einen Wunsch auf einen Zettel schreibt, dieses Papier an ein kleines Vorhängeschloss steckt und über die Friedhofsmauer wirft, dann wird dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Viele jüdische Grabsteine wurden in einem für die jüdische Tradition unüblichen Baustil errichtet - vielleicht versuchten die serbischen Juden, sich in diesem Bereich ein wenig anzupassen oder die mit Ornamenten verzierten Grabsteine gefielen ihnen so sehr, jedenfalls ließen sie sich bei den Grabsteinen von ihrem Umfeld inspirieren. Belgrad wurde von den Nazis im April 1941 bombardiert, im Dezember wurde das „Judenlager Semlin“ (Sajmište) errichtet, wo 7.000 Juden sowie 600 Roma gefangen waren, der Großteil davon Frauen und Kinder. Im Frühling 1942, haben die Nazis aufgrund der geplanten „Endlösung über die Judenfrage“ die Juden des Lagers Semlin in Gaslastwagen liquidiert. „Topovske šupe“ war das erste Konzentrationslager für Juden und Roma in Serbien, wo der Großteil der männlichen Population umgebracht wurde, 5.000 davon wurden erschossen. Ein Mahnmal, das den Belgrader Juden gewidmet ist, findet sich neben der Donau, am Dorćol und heißt „Menora in Flammen“ (vom Bildhauer Nandor Glid).
„Die Gemeinde“ über den Verband Jüdischer Gemeinden
Der erste Artikel über die jüdischen Gemeinden im damaligen
Jugoslawien ist im Jänner 1960 in der Zeitschrift „Die Gemeinde“ erschienen und
war der „Tragödie von Šabac“
gewidmet: „Eine furchtbare Tragödie erstand da wieder vor unseren Augen, als die
Gebeine von mehr als achthundert jüdischen Frauen, Männern und Kindern aus Wien
und Österreich auf dem jüdischen Friedhof in Belgrad zur ewigen Ruhe beigesetzt
wurden“. 1972 hatte der „Verband der jüdischen Gemeinden in Jugoslawien“ das Problem mit dem Rabbiner gelöst: „Die Gemeinschaft hatte nämlich seit der großen Alijah in den Jahren 1948 bis 1950 nur einen Rabbiner, den Chahem Menahem Romano in Sarajevo, der eben vor einigen Jahren im hohen Alter verschied, und so blieb die Gemeinschaft überhaupt ohne Rabbiner. Nun hat der Verband den Absolventen des einstigen theologischen Seminars in Sarajevo, das vom Verband erhalten wurde und bis zum Zweiten Weltkrieg bestand, Cadik Danon akzeptiert, nachdem autorisierte Rabbiner seine Rabbinerfähigkeiten attestierten. Rabbiner Danon wird allen Gemeinden, zuallererst den größeren, zur Verfügung stehen“. Während des Krieges in Jugoslawien hat Karl Pfeifer verschiedene Gemeinden besucht und darüber geschrieben.
Krieg in Jugoslawien 1999
In der Zeit der NATO-Luftangriffe auf die damalige SR Jugoslawien, konnte der „Verband der Jüdischen Gemeinden“, mit zahlreicher Hilfe verschiedener jüdischer Institutionen in Ungarn und der ganzen Welt, wie auch dem Elternheim in Wien, Transporte, Unterkünfte und Hilfsprogramme für jüdische Bürger organisieren, sodass Frauen mit ihren Kindern, Jugendliche und ältere Menschen Schutz vor der Bombardierung fanden. Der erste Autobus ist Ende März 1999 nach Budapest gefahren. Zu dem plötzlichen Verlust des sozialen, kulturellen und beruflichen Status und des räumlichen Umfelds, kam auch der Verlust der persönlichen Identität hinzu. Es wurde alles versucht, um die Verzweiflung über die neue Situation nicht überhand nehmen zu lassen, und um die Menschen nicht depressiv werden zu lassen. Als die Nachrichten über die Entwicklung des Kriegs keinen Grund zu Optimismus gaben, wurden immer mehr Aktivitäten angeboten, um einen sinnvollen Tagesablauf aufrecht zu erhalten: Es gab Sprachstunden in Ungarisch und Hebräisch, Computerkurse, einen Kindergarten und Jugendklub, Tanzkurse, usw. In den ersten Tagen nach der Ankunft in Budapest hat der Fotograf und Journalist Edward Serotta mit seiner Kamera die Reaktionen der Menschen in diesen ersten Momenten der Flucht aufgenommen. Junge Menschen haben oft auf ihre Ausreise nach Israel gewartet. In Budapest waren aber auch viele Mütter mit ihren Kindern, sowie ältere Menschen mit ihrer tragischen Holocaust-Vergangenheit, die (erneut) die Erfahrung von Flucht machen mussten. Einer von ihnen war Cadik Braco Danon, Überlebender des Konzentrationslager Jasenovac (Kroatien). Während seines Aufenthaltes zusammen mit seiner Frau in Budapest, in einem kleinen dunklen Zimmer im Hotel Park neben dem Keleti Bahnhof, schrieb er seine Memoiren über sein Leben und wie er den Schrecken des Lagers überlebte. Ende Juni 1999 sind die letzten Autobusse zurück nach Belgrad gefahren. In diesen drei Monaten, haben ungefähr 600 Mitglieder des „Verbandes Jüdischer Gemeinden“ Schutz in Budapest gefunden.
Leben heute
Die jüdische Gemeinde ist heute eine sehr aktive Gemeinschaft: Es gibt eine Frauen- Sektion, einen Jugendklub, den Sportklub „Makabi“, die Tanzgruppe „Nahar Haesh“, das „King David“-Theater, die „Sektion für hebräische Sprache“ und zahlreiche Kommissionen, die sich täglich in den Räumlichkeiten der Gemeinde treffen. Der Chor „Braća Baruh“ hat kürzlich sein 125-Jahr-Jubiläum gefeiert. Ende des 19. Jahrhunderts war jene Zeit, als die Juden und ihr serbisches Umfeld einen sehr offenen Umgang miteinander hatten, und dieser Chor war ein typisches Beispiel dafür. Die „B´nai B´rith Loge 676“ wurde in Serbien im Jahr 1911 gegründet: ihre Mitglieder waren berühmte Ärzte, Rechtsanwälte und Händler und seit dem Jahr 2004 ist die Loge wieder aktiv. Seit Mai 2008 existiert in der Belgrader Gemeinde die Chabad. Heute sind auch die wirtschaftlichen Beziehungen mit Israel hoch entwickelt. Israelische Firmen haben mehr als eine Milliarde Euro in Serbien investiert, meist in Bürogebäude, Hotels und Einkaufzentren. Die jüdische Gemeinde Belgrad besteht zur Zeit aus ungefähr 1.600 bis 1.800 Mitgliedern (in ganz Serbien etwa 3.000) und viele der Ältesten von ihnen haben für Steven Spielbergs „Shoah Foundation“ und „The Central Europe Center for Research and Documentation“ die Erzählungen über ihre Erlebnisse weitergegeben. Mit Hilfe dieser Lebensgeschichten kann man auch einen Einblick in die jüdische Vergangenheit Belgrads bekommen. Man spürt beim Zuhören dieser alten Menschen, wie gerne sie dennoch über ihre Jugend sprechen und auf ihre eigene Art und Weise diese wieder erleben. Es war eine Zeit, in der Simha und ihr Bruder beim Eingang der damals noch existierenden Synagoge unbeschwert Verstecken spielen konnten.
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